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Ich bin so jung (Rainer Maria Wilke)
Ich bin so jung. Ich möchte jedem Klange, der mir vorüberrauscht, mich schaudernd schenken, und willig in des Windes liebem Zwange, wie Windendes über dem Gartengange, will meine Sehnsucht ihre Ranken schwenken, Und jeder Rüstung bar will ich mich brüsten, solang ich fühle, wie die Brust sich breitet. Denn es ist Zeit, sich reisig auszurüsten, wenn aus der frühen Kühle dieser Küsten der Tag mich in die Binnenlande leitet.
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Die Elster (Christian Morgenstern)
Ein Bach, mit Namen Elster, rinnt durch Nacht und Nebel und besinnt inmitten dieser stillen Handlung sich seiner einstigen Verwandlung, die ihm vor mehr als tausend Jahren von einem Magier widerfahren. Und wie so Nacht und Nebel weben, erwacht in ihm das alte Leben, Er fährt in eine in der Nähe zufällig eingeschlafene Krähe und fliegt, dieweil sein Bett verdorrt, wie dermaleinst als Vogel fort.
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Das Christkind beim Finanzamt
Denkt Euch, ich habe das Christkind gesehen,es war beim Finanzamt zu betteln und fleh´n.Denn das Finanzamt ist gerecht und teuer,verlangt vom Christkind die Einkommensteuer. Das Amt will noch wissen, ob es angehen kann,dass das Christkind so viel verschenken kann.Das Finanzamt hat so nicht kapiert,wovon das Christkind dies finanziert. Das Christkind rief: „Die Zwerge stellen die Geschenke her“,da wollte das Finanzamt wissen, wo die Lohnsteuer wär.Für den Wareneinkauf müsste es Quittungen geben,und die Erlöse wären anzugeben. „Ich verschenke das Spielzeug an Kinder“ wollte das Christkind sich wehren,dann wäre die Frage der Finanzierung zu klären.Sollte das Christkind vielleicht Kapitalvermögen haben,wäre dieses jetzt besser zu sagen. „Meine Zwerge besorgen die Teile,und basteln die…
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An die Entfernte (Johann Wolfgang von Goethe)
So hab´ ich wirklich dich verloren? Bist du, o Schöne, mir entflohn? Noch klingt in den gewohnten Ohren Ein jedes Wort, ein jeder Ton. So wie des Wandrers Blick am Morgen Vergebens in die Lüfte dringt, Wenn in dem blauen Raum verborgen, Hoch über ihm die Lerche singt: So dringet ängstlich hin und wider Durch Feld und Busch und Wald mein Blick – Dich rufen alle meine Lieder: O komm, Geliebte, mir zurück!
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Advent (Rainer Maria Wilke)
Es treibt der Wind im Winterwalde die Flockenherde wie ein Hirt und manche Tanne ahnt wie balde sie fromm und lichterheilig wird; und lauscht hinaus. Den weißen Wegen streckt sie die Zweige hin – bereit und wehrt dem Wind und wächst entgegen der einen Nacht der Herrlichkeit.
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Auf Flügeln des Gesanges … (Heinrich Heine)
Auf Flügeln des Gesanges,Herzliebchen, trag ich dich fort,Fort nach den Fluren des Ganges,Dort weiß ich den schönsten Ort. Dort liegt ein rotblühender GartenIm stillen Mondenschein;Die Lotosblumen erwartenIhr trautes Schwesterlein. Die Veilchen kichern und kosen,Und schaun nach den Sternen empor;Heimlich erzählen die RosenSich duftende Märchen ins Ohr. Es hüpfen herbei und lauschenDie frommen, klugen Gazell’n;Und in der Ferne rauschenDes heiligen Stromes Well’n. Dort wollen wir niedersinkenUnter dem Palmenbaum,Und Liebe und Ruhe trinkenUnd träumen seligen Traum.
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An eine Sängerin (Heinrich Heine)
Als sie eine alte Romanze sangIch denke noch der Zaubervollen,Wie sie zuerst mein Auge sah!Wie ihre Töne lieblich klangenUnd heimlich süß ins Herze drangen,Entrollten Tränen meinen Wangen –Ich wußte nicht, wie mir geschah. Ein Traum war über mich gekommen:Mir war, als sei ich noch ein Kind,Und säße still, beim Lämpchenscheine,In Mutters frommem Kämmerleine,Und läse Märchen wunderfeine,Derweilen draußen Nacht und Wind. Die Märchen fangen an zu leben,Die Ritter steigen aus der Gruft;Bei Ronzisvall da gibts ein Streiten,Da kommt Herr Roland herzureiten,Viel kühne Degen ihn begleiten,Auch leider Ganelon, der Schuft. Durch den wird Roland schlimm gebettet,Er schwimmt in Blut, und atmet kaum;Kaum mochte fern sein JadghornzeichenDas Ohr des großen Karls erreichen,Da mußt der Ritter schon erbleichen –Und mit ihm stirbt zugleich mein…
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Abenddämmerung (Heinrich Heine)
Am blassen MeeresstrandeSaß ich gedankenbekümmert und einsam. Die Sonne neigte sich tiefer, und warfGlührote Streifen auf das Wasser,Und die weißen, weiten Wellen,Von der Flut gedrängt,Schäumten und rauschten näher und näher –Ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen,Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen,Dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen –Mir war, als hört ich verschollne Sagen,Uralte, liebliche Märchen,Die ich einst, als Knabe,Von Nachbarskindern vernahm,Wenn wir am Sommerabend,Auf den Treppensteinen der Haustür,Zum stillen Erzählen niederkauerten,Mit kleinen horchenden HerzenUnd neugierklugen Augen; –Während die großen Mädchen,Neben duftenden Blumentöpfen,Gegenüber am Fenster saßen,Rosengesichter,Lächelnd und mondbeglänzt.
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Alte Rose (Heinrich Heine)
Eine Rosenknospe warSie, für die mein Herze glühte;Doch sie wuchs, und wunderbarSchoß sie auf in voller Blüte. Ward die schönste Ros im Land,Und ich wollt die Rose brechen,Doch sie wußte mich pikantMit den Dornen fortzustechen. Jetzt, wo sie verwelkt, zerfetztUnd verklatscht von Wind und Regen –Liebster Heinrich bin ich jetzt,Liebend kommt sie mir entgegen. Heinrich hinten, Heinrich vorn,Klingt es jetzt mit süßen Tönen;Sticht mich jetzt etwa ein Dorn,Ist es an dem Kinn der Schönen. Allzu hart die Borsten sind,Die des Kinnes Wärzchen zieren –Geh ins Kloster, liebes Kind,Oder lasse dich rasieren.
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Altes Lied (Heinrich Heine)
Du bist gestorben und weißt es nicht,Erloschen ist dein Augenlicht,Erblichen ist dein rotes Mündchen,Und du bist tot, mein totes Kindchen. In einer schaurigen SommernachtHab ich dich selber zu Grabe gebracht;Klaglieder die Nachtigallen sangen,Die Sterne sind mit zur Leiche gegangen. Der Zug, der zog den Wald vorbei,Dort widerhallt die Litanei;Die Tannen, in Trauermänteln vermummt,Sie haben Totengebete gebrummt. Am Weidensee vorüber gings,Die Elfen tanzten inmitten des Rings;Sie blieben plötzlich stehn und schienenUns anzuschaun mit Beileidsmienen. Und als wir kamen zu deinem Grab,Da stieg der Mond vom Himmel herab.Er hielt eine Rede. Ein Schluchzen und Stöhnen,Und in der Ferne die Glocken tönen.
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An die Jungen (Heinrich Heine)
Laß dich nicht kirren, laß dich nicht wirrenDurch goldne Äpfel in deinem Lauf!Die Schwerter klirren, die Pfeile schwirren,Doch halten sie nicht den Helden auf. Ein kühnes Beginnen ist halbes Gewinnen,Ein Alexander erbeutet die Welt!Kein langes Besinnen! Die KöniginnenErwarten schon knieend den Sieger im Zelt. Wir wagen, wir werben! besteigen als ErbenDes alten Darius Bett und Thron.O süßes Verderben! o blühendes Sterben!Berauschter Triumphtod zu Babylon!
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Allnächtlich im Traume (Heinrich Heine)
Allnächtlich im Traume seh ich dich,Und sehe dich freundlich grüßen,Und lautaufweinend stürz ich michZu deinen süßen Füßen. Du siehst mich an wehmütiglich,Und schüttelst das blonde Köpfchen;Aus deinen Augen schleichen sichDie Perlentränentröpfchen. Du sagst mir heimlich ein leises Wort,Und gibst mir den Strauß von Zypressen,Ich wache auf, und der Strauß ist fort,Und das Wort hab ich vergessen.
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Am fernen Horizonte (Heinrich Heine)
Am fernen HorizonteErscheint, wie ein Nebelbild,Die Stadt mit ihren Türmen,In Abenddämmrung gehüllt. Ein feuchter Windzug kräuseltDie graue Wasserbahn;Mit traurigem Takte rudertDer Schiffer in meinem Kahn. Die Sonne hebt sich noch einmalLeuchtend vom Boden empor,Und zeigt mir jene Stelle,Wo ich das Liebste verlor.
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Der Schwan (Rainer Maria Rilke)
Diese Mühsal, durch noch Ungetanesschwer und wie gebunden hinzugehn,gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes. Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassenjenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,seinem ängstlichen Sich-Niederlassen: in die Wasser, die ihn sanft empfangenund die sich, wie glücklich und vergangen,unter ihm zurückziehen, Flut um Flut; während er unendlich still und sicherimmer mündiger und königlicherund gelassener zu ziehn geruht.
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Herbsttag (Rainer Maria Rilke)
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,und auf den Fluren laß die Winde los. Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;gib ihnen noch zwei südlichere Tage,dränge sie zur Vollendung hin, und jagedie letzte Süße in den schweren Wein. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,wird wachen, lesen, lange Briefe schreibenund wird in den Alleen hin und herunruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
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Abendgang (Rainer Maria Rilke)
Wir wandeln in den Abendglanz den weissen Weg durch – Taxusbäume, du hast so tiefe, tiefe Träume und windest einen weissen Kranz. Komm, du bist müde. Kurze Rast: Du lächelst in die heissen Fernen, du lächelst zu den ersten Sternen, und ich weiss, dass du Schmerzen hast. Ich sehne mich so … Du verstehst. –Und dieses Sehnen wird erst enden, wenn du mit leisen, müden Händen die erste Wiegendecke nähst.
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Liebeslied (Rainer Maria Rilke)
Wie soll ich meine Seele halten, dasssie nicht an deine rührt? Wie soll ich siehinheben über dich zu andern Dingen? Ach gerne möcht ich sie bei irgendwasVerlorenem im Dunkel unterbringenan einer fremden stillen Stelle, dienicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen. Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,nimmt uns zusammenn wie ein Bogenstrich,der aus zwei Saiten eine Stimme zieht. Auf welches Instrument sind wir gespannt?Und welcher Geiger hat uns in der Hand?O süsses Lied.